Die ideologischen Extrempositionen zu Industrie 4.0 sind besetzt: Heilsversprechende Technikutopien auf der einen Seite, schwarzmalende Klagelieder zu drohendem Arbeitsplatzverlust auf der anderen Seite. Um nicht unbesehen in eines dieser Lager zu geraten, empfiehlt sich ein kurzer Blick in die Grundlagen.

Unbescheidener Antrieb für die Lancierung von Industrie 4.0 war es, Deutschlands Zukunft als Produktionsstandort zu sichern. Die Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft hat von 2006 bis 2013 als innovationspolitisches Beratungsgremium die Umsetzung und Weiterentwicklung der Hightech-Strategie 2020 für Deutschland begleitet. Die Arbeit mündete im Schlussbericht «Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0» (Download über die Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, www.bmbf.de). Darin tauchen zwei neue Begriffe auf: Industrie 4.0 und Cyber-Physical Systems (CPS). Währenddem sich der Begriff CPS nicht durchsetzt, übernimmt die Werbebranche den Teilbegriff «4.0» enthusiastisch: Die einfache Formel lautet: 4.0 = modern (oder 4.0 = Albtraum, je nach Position).

Individueller Nutzen steht im Vordergrund

Man mag bedauern, dass der ursprüngliche Gedanke verwässert wird. Wenigstens spricht man aber darüber, dass die Informatik einen zunehmenden Stellenwert einnimmt. Im Weiteren zeigt der Bericht, dass drei Stossrichtungen wichtig sind: Die horizontale und die vertikale Integration sowie die Durchgängigkeit des Engineerings über die gesamte Wertschöpfungskette. Nicht aus diesem Bericht stammt der Begriff «Digitale Transformation», mit dem der Weg gemeint ist, welcher zu Industrie 4.0 führt. Auf diesem Weg sind bereits sehr viele Unternehmen in der Schweiz unterwegs. In den folgenden Überlegungen wird der Aspekt des Engineerings beiseitegelassen und auf die horizontale bzw. vertikale Integration fokussiert.

In der Industrie gibt es beides schon seit Jahrzehnten. Unter horizontaler Integration versteht man den Zusammenschluss von IT-Systemen zu Kunden und Lieferanten. Gerade bei grösseren Unternehmen können diese Kunden und Lieferanten durchaus auch firmenintern sein. Typische Informationsflüsse beinhalten Preisanfragen, Bestellungen, Zahlungen etc. Unter der Regie der UNO gibt es dazu seit mehr als 30 Jahren den Standard UN/EDIFACT. Dieser ISO-Standard wird laufend ausgebaut und ist bestens dokumentiert. Es gibt dazu Tools, Plattformen und Schnittstellen. Eine ideale Situation also?

Bei grossen Unternehmen und eher häufigen Geschäftsbeziehungen wird EDIFACT tatsächlich weltweit intensiv genutzt. In anderen Fällen ist das Interesse aufgrund des Aufwandes eher klein: Es lohnt sich nicht. Genau diese Fragen entscheiden die IT-Integration: Lohnt es sich? Wem nützt es? Tendenziell versucht sich jede einzelne Person, Stelle, Organisationseinheit etc. zu optimieren. Ist dabei der persönliche Nutzen der IT-Integration nicht ersichtlich, findet sie nicht statt. Dass durch die Integration ein übergeordneter Nutzen entstehen könnte, spielt oft eine kleine Rolle.

Horizontale und vertikale Integrationen

Neben UN/EDIFACT gibt es zahlreiche weitere Standards für die horizontale Integration. Ein wesentlich neuerer Standard ist ZUGFeRD. Der Leistungsumfang ist viel bescheidener als bei EDIFACT, liegt der Fokus doch vorerst nur auf der Rechnungsabwicklung. Interessant an ZUGFeRD ist, dass die Einstiegsschwelle sehr niedrig ist. Der (kleine) Aufwand liegt auf der Senderseite der Rechnung, von einer Vereinfachung profitiert aber die Empfängerseite. Beim ERP myfactory z.B. beschränkt sich der Aufwand auf das einmalige Setzen einer Checkmark; danach tragen die pdf-Rechnungen alle Angaben als XML integriert mit. Der Rechnungsempfänger kann diese Informationen einlesen oder manuell verarbeiten. Weitere Beispiele für die horizontale Integration sind nicht nur bei Bestellungen und im Finanzfluss bekannt, sondern auch bei Planung, Produktkonfiguration oder Produktentwicklung.

Eine wichtige Rolle spielen die erwähnten CPS bei der vertikalen Integration. Cyber-Physical Systems sind die im (Produktions-)Betrieb vorhandenen Maschinen mit Sensoren, Elektronik, Aktoren und einer Datenverbindung. Über diesen Datenkanal sollen die Geräte auf der untersten Ebene bidirektional mit übergeordneten Steuerungssystemen und dem ERP kommunizieren können. Auch diese Idee ist nicht neu. Erfolgreiche Integrationsprojekte gibt es seit über zwanzig Jahren. Überhaupt weist die Industrie 4.0-Initiative Parallelen auf zum CIM-Aktionsprogramm, welches in den frühen 90er Jahren in der Schweiz gestartet wurde. Die Ansätze sind vielleicht nicht neu, aber heute stehen nicht nur ganz andere technische Mittel zur Verfügung, auch deren Verbreitung hat massiv zugenommen. Daher ist es ganz gut, dass die «Industrie 4.0»-Marketingmaschinerie bewusst macht, dass die früheren Theorien nun endlich umsetzbar sind.

Voraussetzungen für die Umsetzung

Zurück zur vertikalen Integration: In Produktionsbetrieben spielen die Feinplanung mit Rückmeldungen oder die Verbindung zu Lagerbewegungen eine wichtige Rolle. Sehen Anwender jedoch durch den Gebrauch digitaler Tools keine persönliche Optimierungsmöglichkeit, werden Alternativen wie Post-It, Excel etc. bevorzugt. Für sich allein ist das vielleicht einfacher; eine vertikale Integration wird dadurch aber verhindert. Genau betrachtet sind die Vorzeigebeispiele der Integration weder horizontal noch vertikal, sondern eine Kombination daraus.

Ein Beispiel: SmartBin von Bossard, seit bald 20 Jahren im Einsatz für das C-Teile-Management bei Kunden. Stellen die Waagen fest, dass ein Mindestbestand erreicht wird, liefert Bossard automatisch. Ähnlich in den Prozess eingebunden sind die elektronischen Knöpfe von Amazon oder Brack, mit denen die Bestellung für gewisse Produkte auf Knopfdruck ausgelöst wird. Dabei trifft das grosse Interesse des Lieferanten auf die Bequemlichkeit des Kunden. Diese wird noch unterstützt durch die ausgefeilte Technik, welche der Bedienung nicht die geringste Schwierigkeit in den Weg legt. Einen Knopf am Lagerplatz zu drücken ist denkbar einfach (und bei SmartBin nicht mal nötig). Aus diesen einfachen Beispielen lässt sich ableiten, dass die Integration funktionieren kann, wenn:

  • die Einstiegsschwelle klein ist (Einführung + Betrieb). Beispiel ZUGFeRD
  • ein stark asymmetrisches Interesse (eine Seite hochmotiviert, der anderen ist es egal) vorliegt oder sogar beide Seiten interessiert sind.
  • die Nutzung sehr einfach ist.

Die Integration kann auch erzwungen werden. Praktisch würde dies bedeuten, entsprechende Machtverhältnisse einzusetzen, alternative Wege zu verschliessen (technisch, rechtlich, finanziell etc.) oder monetäre Anreize zu setzen.

Unternehmerische Entscheide sind gefordert

Ob eine Integration erfolgreich ist, entscheidet oft die Umsetzung im Detail. Würde zum Beispiel der Bestellknopf von Amazon auch genutzt, wenn an dessen Stelle ein QR-Code an die Waschmaschine geklebt wird und dieser mit dem Smartphone für das Nachbestellen von Waschmittel fotografiert werden müsste? Moderne ERP-Systeme bringen breite Integrationsmöglichkeiten im Standard mit. Innerbetrieblich können damit die horizontale und vertikale Integration weitgehend realisiert werden. Kosten entstehen aber trotzdem. Allfällige Akzeptanzprobleme sind schon zu Beginn eines derartigen Projektes anzugehen. Ob sich ein Projekt auszahlt, lässt sich in den meisten Fällen schlecht beantworten. Neben der reinen Zeitersparnis sind es eher Aspekte wie Fehlerreduktion, die auf der Nutzenseite zu Buche schlagen.

Den Weg der digitalen Transformation zu gehen, kostet. Fast jeder Schritt darauf erfordert einen unternehmerischen Entscheid. Als Unternehmen kann man aus Überzeugung den Weg gehen und investieren oder Kosten-Nutzen-Überlegungen versuchen. Die Akzeptanz als grosse Unbekannte macht allerdings die Kosten-Nutzen-Berechnung sehr schwierig, sowohl bei firmeninternen als auch übergreifenden Integrationsprojekten. Wer auf diesem schwer einsehbaren Weg vorwärtskommen will, braucht Mut. Aber das ist ja eine typische Eigenschaft eines Unternehmers.

 

Dr. Marcel Siegenthaler

Dr. Marcel Siegenthaler (†) war Partner der schmid + siegenthaler consulting gmbh und unterstützte Unternehmen bei der Evaluation und Einführung von Business Software. Er leitete das Consulting Team von schmid + siegenthaler.