Interne «Könige» beherrschen ihre Unternehmens(be)reiche in Entwicklung, Logistik, Vertrieb, Marketing oder Einkauf und sehen sich als Nabel der Firma. Wie lassen sich trotz unterschiedlicher Interessen effiziente Prozesse für ein unternehmensweit durchgängiges ERP-System umsetzen?

Jede Firma hat verschiedene Abteilungen, Persönlichkeiten, Fachbereiche und Prozesse. Die Aufbau- und Ablauforganisation wächst oft organisch im Laufe der Zeit, ähnlich wie bei einer Bambuspflanze – man weiss nie, wo der nächste Spross austritt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man an Probleme stösst, welche eine effiziente Arbeitsweise verhindern. In der Regel werden dann ERP-Projekte gestartet mit dem Ziel, die desolate Lage zu verbessern. Dann beginnt der interne Kampf der Kulturen und Königreiche. Der Vertrieb pocht auf «sein» CRM, das Engineering fordert «sein» Projektmanagement, die Entwicklung verlangt «ihr» PDM, die Produktion ruft nach «ihrem» Leitstand und so weiter. Als Krönung der partikulären Interessen wird unisono vom Controlling verlangt, sämtliche Kosten, Kalkulationen und Werteflüsse jederzeit im Griff zu haben. Da die Schweizer nur ein geringes royales Faible haben, sondern ein Volk der Kompromisse sind,  versucht  man, es allen recht zu machen. Über Schnittstellen miteinander verknüpfte Teillösungen werden dann als unwahrscheinlich kreative Konstrukte im ERP als Gesamtkunstwerk abgebildet – allerdings mit eher mässigem Erfolg.

Oberstes Ziel: Gemeinsam das Ganze optimieren

Drehen wir den Spiess einmal um. Das oberste Ziel für eine Firma ist es eigentlich, Geld zu verdienen. Daraus lässt sich ableiten, dass alles unternommen werden sollte, um dieses primäre Anliegen des Unternehmens zu unterstützen. Die zentrale Frage lautet: Verdiene ich mit dem, was ich tue, auch etwas? Oder anders ausgedrückt: Ist der Prozess so effizient, dass wir gemeinsam das Optimum herausholen?

Jeder weiss heute, dass Geschäftsprozesse sowohl eine organisatorische wie auch eine systemtechnische  Herausforderung  sind.  Beide Aspekte stehen in einer Wechselbeziehung zueinander und sind voneinander abhängig. Die Optimierung von Geschäftsprozessen ist eben nicht nur Sache des ERP-Systems. Als Berater erlebe ich oft, dass der «Computer» bzw. das ERP beschuldigt wird, wenn Arbeitsabläufe nicht optimal funktionieren. Ursachen werden eben gerne an Dritte delegiert, sei es an die Software oder an den Lösungsanbieter. Nur ungern stellen die (internen) Beteiligten den Prozess – und damit sich selbst – auf den Prüfstand. Das objektive Hinterfragen von Abläufen ist nicht nur fachlich eine Herausforderung, sondern kann auch am Ego kratzen. Von der persönlichen Befindlichkeit ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Verteidigung des eigenen «Königreichs». Probleme werden nicht gelöst, sondern solange hin und her geschoben, bis sie sich entweder selber erledigen oder per Dekret von oben entschieden werden. Damit wir uns richtig verstehen: Dass sich interne Abteilungen für ihr Anliegen ins Zeug legen, ist nicht a priori schlecht. Dies kann auch ein positiver Ausdruck für das Engagement und die Kompetenz von Mitarbeitenden sein. Negativ ist es dann, wenn es um alte Vorrechte oder Traditionen geht (à la «wir haben das schon immer so gemacht»).

Gefordert sind klare Strategien und konkrete Ziele

Wie finden wir nun den Weg aus diesem Dilemma heraus? Als erstes braucht es eine klare, verständliche Unternehmensstrategie, von der sich konkrete, realistische Ziele ableiten lassen, welche sowohl organisatorische wie auch technische Aspekte beinhalten. Für die Umsetzung der Strategien und die Zielkontrolle ist das Management verantwortlich. Die Führungscrew muss gemeinsam die Ziele verfolgen und diese jederzeit dem obersten Ziel unterordnen. Allein hier ist bereits grosse Disziplin gefordert. In der Regel braucht es eine Art Coach, der das Zusammenspiel beobachtet und bei Abweichung eingreift. Jedes Führungsmitglied muss hier seine Komfortzone verlassen und sich in den Dienst des gemeinsamen Auftrages stellen, was nicht sehr einfach ist. Jede und jeder ist Teil des Ganzen; niemand darf bevor- oder benachteiligt werden. Die Prozesse der einzelnen Bereiche passen nur dann zusammen, wenn sich die Unternehmensführung einig ist.

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Die vereinigten Königreiche eines Industrieunternehmens: Nur der Blick aufs Ganze ermöglicht effektive Prozesse und einen optimalen Einsatz des ERP als unternehmens- weite Gesamtlösung (Bild zVg).

Wie passt das nun in die ERP-Landschaft? Nehmen wir einen Geschäftsprozess eines Anlagenbauers, z.B. die Auftragsabwicklung. Das klingt einfach, jedoch reden wir hier bereits von einem mehrdimensionalen Geschäfts- prozess. Wie lassen sich die verschiedenen Teilprozesse harmonisch   verbinden? Jeder «Vorgänger» und «Nachfolger» gibt sein Bestes und interpretiert das ERP einzig aufgrund der eigenen Bedürfnisse. Als Folge zerfällt die Standardlösung in Software-Fragmente, wel- che nicht mehr dem «obersten Ziel», sondern nur noch der Selbstverwirklichung dienen. Oft mit kontraproduktiven Auswirkungen auf die vor- und nachgelagerten Prozesse.

Klassisches Beispiel: CAD, PDM und ERP

Ein  naheliegendes  Beispiel  für  den digitalen «Röstigraben» ist das Zusammenspiel von CAD, PDM und ERP in Industriebetrieben. Was nützt ein mit PDM (Product Data Management) optimierte Entwicklungsabteilung, wenn die Daten für die Auftragsbearbeitung ein zweites Mal von Hand im ERP-System eingegeben werden müssen? Auf den ersten Blick scheint eine einfache Schnittstelle zwischen PDM und ERP das Problem zu lösen, doch der Schein trügt. Damit der gesamte Freigabe- und Auftragsprozess unterstützt und das Änderungswesen über die gesamte Herstellkette abgedeckt werden kann, müsste die Schnittstelle bidirektional aufgebaut werden. Das wiederum ist kompliziert und generiert nebenbei massive Kosten für Realisierung und Unterhalt.

Deutlich vorteilhafter ist die Integration des CAD-System ins ERP-System für eine nahtlose Abwicklung von Auftrags- und Herstellprozess. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Verbindung zum Projektmanagement, zur Beschaffung usw. Will die Entwicklung ein Teil ändern, ist es zwingend nötig zu wissen, ob dieses Teil bereits in der Produktion auf der Maschine hergestellt wird. Nimmt der Verkauf neue Bestellungen auf, müssen die Bedarfe direkt als Bestellvorschläge in der Beschaffung erscheinen, wenn diese nicht am Lager verfügbar sind. Nicht zu vergessen das Controlling.

Auf Knopfdruck zu wissen, wie es um die Projektkosten steht, ist nicht selbstverständlich. Wie viele Firmen gibt es heute noch, die manuell Bedarfe rechnen, wöchentlich Lagerbestände zählen, Artikelstämme und Stücklisten von Hand mehrfach in verschiedenen Systemen erfassen, zusätzliche Excellisten führen usw. Die Liste solcher ineffizienten Prozesstätigkeiten ist beliebig lang, womit wir wieder bei der Frage angelangt sind: Wie effizient sind Organisation und systemtechnische Werkzeuge (IT/ERP/CAD) aufgestellt, um das «oberste Ziel» zu erfüllen?

 Zum Wohl des Ganzen statt Luxus für Einzelne

Das Geld liegt offensichtlich auf der Strasse, man darf nur nicht zu stolz sein, sich danach zu bücken. Keinem nützt das beste System etwas, wenn es sich nicht nahtlos ins Gesamtsystem einbetten lässt. Luxuslösungen für einzelne Königreiche sind nicht gefragt, sondern integrierte Funktionen und Systeme, welche zur Optimierung des Ganzen beitragen. Betrachtet man also das Ganze aus der Vogelperspektive, steht und fällt es mit einer klaren Firmenstrategie, die ein Führungsteam im Sinne der maximalen Effizienzerreichung gemein- sam umsetzen muss. Alte Gewohnheiten und Traditionen müssen über Bord geworfen werden. Wir leben heute in einer Zeit in der die einzige Konstante die Veränderung ist. Wann beginnen Sie sich zu verändern und die Dinge in neuem Licht zu betrachten?


 

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Autor:

Guido Stöckli ist Dozent für Logistik, PPS und Materialwirtschaft beim sfb Bildungszentrum für Technologie und Management. Key Account Manager & Consultant bei Codex Information Systems & Consulting AG. Langjährige Erfahrung im Bereich Logistik, ERP und Prozessmanagement
www.sfb.ch